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Nachdenken über Integrale Spiritualität - Die Anmutung einer umfassenden Gebärde

Vortrag von Peter Erlenwein

und HörCds/Kassetten 

I.
Das Haupthema der Arbeiten Wilbers ist  die schöpferische Verbindung von Natur- und Geisteswissenschaft /Religion, bzw. Spiritualität; anders-  von Komplexität (Spanne und Tiefe/ Stufen und Linien) und Einfachheit/ (Nicht-Dualität) als Manifestationen einer Evolution des Bewußtseins. Erweist sich doch die Postmoderne mit ihren Brüchen und Verwerfungen als ein extrem  komplexes Phänomen im Vergleich zu früheren geschichtlichen Epochen. Man denke hierbei insbesondere an die naturwissenschaftlich-technischen Entwicklungen der letzten 150 Jahre bis hin zu Internet mit seinen  Auswirkungen  auf alle Bereiche des Lebens, nicht zu reden von den Konsequenzen im kulturellen wie wirtschaftlichen Gebiet  in globalem Maßstab. Neue vorher nicht gekannte Parameter bestimmen unsere Zeit. Gerade die etablierten Religionen sind hier unmittelbar betroffen: Fundamentalismus und A-theismus, zwei Seiten einer Medaille, treffen ins Mark religiösen Selbstverständnisses. So mutet das Schweigen des Buddha manchmal schon fast esoterisch oder romantisch an. Doch gerade dieses Schweigen spielt in Wilbers Schriften, nämlich seinen ‚empirischen’ Nahforschungen über meditative Bewusstseinszustände, eine zentrale Rolle.
Die Schatten der Aufklärung, die Wilber andererseits, neben seiner Würdigung der Moderne, ans Tageslicht gehoben hat, insbesondere der Verlust der Innenperspektiven und einer authentischen Spiritualität, bzw, einer Auseinandersetzung mit einer solchen, haben das Integral mit einer besonderen Verantwortung begabt. Der Begriff selbst ist trocken, abstrakt, ja in einer Weise leer. Er gleicht – paradox formuliert- einer ‚offenen’ Umarmung, die bereit ist, das Gegensätzliche, das Tiefe und Hohe unbedingt miteinzuschließen- bei deutlicher Wahrnehmung ihrer Stufungen (true but partial).
 Diese Gebärde des Integrals-  ich nenne sie- mit einer poetischen Umschreibung, eine Anmutung, wiewohl sie leicht als Zumutung verstanden werden könnte- diese Anmutung weist Parallelen zur Haltung des Hinduismus auf, der ja immer behauptete, dass seinem Schoß! alle Arten von Religionen entsprungen seien- monotheistische wie polytheitische oder a-theistische wie der Buddhismus. Auf dem Gedanken einer solchen Ur-geburt beruht sein Pathos; dass des Integrals ist ihm verwandt und doch ganz anders aufgespannt.
 Eine Landkarte des Bewusstseins oder eine Theorie von Allem entwerfen zu wollen, ein solches Ansinnen ist, in empirischer Hinsicht, erst mit dem heutigen Stand der modernen  Wissenschaften möglich. Das Integral, das so große auseinandergedriftete Kontinente wie Wissenschaft und Religion, Politik und Ökologie neu verflechten möchte, kann eigentlich nur auf einer paradoxen Verbindung von Vision, Humor und radikaler Bejahung von Gegensätzen gelingen; von Antagonismen, die allein dialektisch, wie die letzten 50 Jahre gezeigt haben, nicht gelöst, will sagen nicht geheilt werden können.
 Betrachten wir das Integral nicht nur als interessante Landvermessung
geistig-seelischer Prozesse, also eines weiteren, noch über Hegel hinausgehenden, quasi endgültigen Theorieversuchs einer spirituellen Kartographierung des Bewußtseins in all seinen Dimensionen, sondern vielmehr als eine Heilungsintention, die unseren globalen, wie zerrissenen Zeiten ebenso notwendig wie angemessen erscheint, dann ist die Geste der offenen Umarmung ein Ausdruck tiefster Weltbejahung,  ja Ehrfurcht.. Das Wort integer fällt hierzu ein, lateinischen Ursprungs, das eine Verbindung von Wahrhaftigkeit und Ganzheitlichkeit im Sinne von Kontinuität andeutet.
Integer scheint, mit Blickpunkt auf eine solche Definition des Integrals, gekennzeichnet durch die Symbolik einer paradoxen Gebärde der Geöffnetheit, noch ein Weiteres anzudeuten: den Verweis auf den utopischen Charakter der integralen Vision, nämlich eine immer fliehende Horizontlinie(buddhistisch gesprochen die Leere)  berühren zu wollen, ja zu sollen- ein ebenso verständliches, ja notwendiges, doch im Sinne des Schweigens des Buddha eigentlich unmögliches Ansinnen. 1 Chance wie Grenze des Integralen als einer ‚Theorie von Allem’ sind hier unauflösbar verwoben.


II.
Es gilt nun zu bedenken, dass die integrale Intention auf eine zentrale evolutionäre Tatsache  trifft, die mit dem schönen deutschen Wort ‚Gestalt’ sehr anschaulich umschrieben ist. Das heißt, das Individuum, das eigentlich Ungeteilte, erscheint als Gestaltetes, Umrissenes, als geprägte Form gegen den Hintergrund eines offenen Horizontes. Durch solche Formhaftigkeit wird es erkennbar, berührbar, antlitzhaft- und, entscheidend, begrenzt. Das Individuum zeichnet sich durch, räumlich gesprochen, zweierlei aus: Sphäre,  als eine Art ‚unsichtbarer’ Ausdehnung, besser Strahlung, wie andererseits Grenze, die, als Haut, porös ist, atmend, transparent.
Schöpfung, Evolution basiert auf Kontingenz, ist mithin grenzwertig, sprich fragil, endlich, zerstörbar. In ihrer Weise der Gefasstheit, der Umgrenzung wirkt sie andererseits als Prägstempel, als Musterbildung, durch die sich die ‚Wahrheit’ des Individuums jederzeit ‚im Fleische’ kommuniziert.
Ganzheitlichkeit, so lernen wir aus einer holarchischen  Perspektive, die Teil und /als Ganzes in dynamischer Entfaltung erkennt ist ebenso über Bruch, Spaltung wie über gleitendes, warmes In-Auseinanderfalten bestimmt: Tansformation kennt in der Evolution beide Wege, Eros und Chaos, die das jeweilige Niveau einer Entwicklung bestimmen.
Mehr als 100 Jahre tiefenpsychologischer Empirie lehrt uns, eine weitere Grenze  (im genannten Sinne) hoch zu achten: Bewusstsein als  die Spitze eines Eisbergs, dessen Umfänglichkeit wesensmäßig im Dunklen ruht; eine Erkenntnis Freuds, die  jeder idealischen Verbrämung Teil integraler Weltanschauung eine unüberhörbare Warnung entgegensetzt. Das Scheitern der großen Utopien im 20. Jahrhundert ist hier deutlichstes Zeichen gegen überzogene Ansprüche oder theoretische Unbedingtheiten.2
Man anerkenne die Grenze als eine Chance, nicht dagegen als Ende eines allseitigen Reifungsvorganges.  Ganz im Sinne des Kerngedankens Wilberscher Holarchielehre: das Obere baut auf dem Unteren auf, das Untere will integriert sein, sollen die höheren Ebenen zum Blühen kommen; der Lotus, östlich gesprochen, wurzelt im Sumpf, einem höchst nährstoffreichen Terrain, das die Kräfte für Wachstum, für Blüte und Frucht enthält, allerdings auch für manche Art von Fäulnis. Dass der Segen des Himmels, in Form von Benetzung, geistlichen Segens hinzukommen muß, versteht sich (leider nicht immer) von selbst. Dieses Geschenk einer natürlichen Taufe, der Gnade einer Befruchtung durch die  Agape, gilt uneingeschränkt im spirituellen Raum: Transzendenz kann nicht erzwungen werden; geistige Evolution ist auf ‚Spende’ angewiesen, soll sie gelingen- jenseits aller meditativen Technik, jenseits der Möglichkeiten eines aktiven Mitschöpfertums an der Bewusstseinsentwicklung des Menschen.
 
III.
Für ein westliches, rational orientiertes Denken und Handeln ergeben sich damit spannende Herausforderungen. Denn die Erfahrung unserer globalisierten Welt zeigt, dass es, gerade in den sogenannten Entwicklungsländern, deren religiöse Anschauungen  (quantitativ gesprochen) zumeist noch im magisch-mythischen Raum angesiedelt sind, in der Befruchtung durch die Würden der Moderne, insbesonders bei den Frauen, zu erstaunlichen Evolutionsschüben kommt. Bei vielen von ihnen verbinden sich Tradition und Postmoderne in einer Weise, die die Bürde der eigenen Überlieferung entschlackt, transformiert, ohne des religiösen Grundimpulses verlustig zu gehen. Im Gegenteil! Es scheint eher so, als habe sich die Wurzelverbindung zum Quell, sagen wir Gott, sagen wir  abstrakt Transzendenz, noch vertieft- weitab von den  Zynismen spätkapitalistischer Ökonomie oder dem philosophischen Relativismus eines dekonstruktivistischen, europäischen Denkens, dem auch die weibliche Intelligentsia hierzulande. fast immer  unterworfen ist.
 Im Spiegel einer Aufklärung dagegen, die das spirituelle Herzzentrum nicht preisgegeben hat, bekommt das Potential primärer Bewusstseinstufen eine Reifung, die Ahnenkult, Zauber , Idolverehrung etc. zu Kräften hoher Intuition , Inspiration  auf dem Hintergrund von Ehrfurcht vor der Schöpfung und natürlicher Solidarität mit allem Lebendigen verwandeln.   Josef Beuys sprach vom Wärmestrom; der Autor fand ihn auf seinen Reisen mehrheitlich  in den sogenannten armen Dritte Welt Ländern..
Eine integrale Spiritualität der offenen (aber nie blinden) Gebärde der Umarmung hat sich in globalen Zeiten also der uralten Dialektik von Zentrum und Peripherie zu stellen (politisch, kulturell, soziologisch);  Denkfiguren, die tief in mythologische Schichten des allgemeinen Menschheitsbewußtseins zurückreichen und auch heute noch Geltung beanspruchen dürfen. Lange Zeit galt die Erde als Mittelpunkt des Universums; Kopernikus und Kepler machten dieser Anschauung den Garaus; eine der ersten großen Dekonstruktionen der beginnenden Neuzeit, die einem hochgemuten Glauben, wie auch  einem bloß funktionalen Denken tiefe Wunden zufügten. Nach der kopernikanischen Wende waren die zentralen Perspektiven von Mitte und Rand unaufhaltsam in Bewegung geraten.
 Bewusstseinsstufen sind, wie alles im wirklichen Leben, in ständiger Fluktuation. Wie Wilber betont, unterliegen sie in ihren Ausfaltungen, ihrer Reibung mit Umwelt, lokalen wie geschichtlichen Bedingungen starken Dynamiken, ja Turbulenzen unterworfen, denen mit Statistik  (30%  Kulturell Kreative als Ressourcen integraler Entwicklung) nur begrenzt beizukommen ist. Wir leben in poly-zentrischen Zeiten, in denen sich Schwerpunkt und Rand ständig gegeneinander verschieben. Es gibt heute eine Pluralität von Zentren (China, Rußland, Indien u.a.), die im Sinne integraler Mehrschichtigkeit (Holarchie) miteinander  vernetzt sind- im guten wie im schlechten; sie müssen also komplex gesehen werden (geopolitische Grundbedingungen, psycho-historisch geprägte ethnisch-nationale Tiefenmuster, Werthaltungen, Weltanschauungen)  und aus ihrer ihnen eigenen! Dynamik heraus in offenen Deutungen erfasst werden. Erst dann werden vielleicht  Emergenzen erkennbar, die einem eher theoretisch orientierten Verständnis von Evolution nicht immer so leicht einzuleuchten vermöchten.. Kurzum , Evolution ist voller Überraschungen.
 Das trifft in unserem Beispiel bezüglich der Rolle von Frauen in Drittweltländern für eine tiefe Spiritualität  (Verhältnis Erde-Mensch-Geschlecht) und ihre Bedeutung für den Westen ebenso zu wie beispielsweise für den Krisenherd Irak, der in seiner momentanen anarchisch-desaströsen Verfassung nicht nur die Bodenlosigkeit imperialer Attituden ans Licht zieht sondern in erschreckender Deutlichkeit vor Augen führt, wie schnell die Peripherie ein sogenanntes Zentrum (USA) in all seinen Dimensionen (Wirtschaft, Wertbezüge, Identität) ins Wanken zu bringen vermag. Die Ausfaltung von Spiral dynamics auf die amerikanische Gesellschaft und ihre Verwerfungen durch einen solchen selbstinszenierten Krieg könnte sich in dieser Hinsicht als eine wichtige thematische Herausforderung  des Integral Institute erweisen. Es würde die Frage nach dem Verhältnis von Globalität und Nationalität (eine der entscheidendsten  im 21. Jahrhundert) im Lichte des Integrals in aller Schärfe zu stellen haben.

IV.
Das Thema Grenzen berührt noch eine andere zentrale Kategorie im Wilberschen Denken: seine faszinierende Gegenüberstellung von Bewusstseinszuständen und- strukturen gibt ein tieferes Verständnis der Dynamik von geistiger Erfahrung und ihrer Interpretation im persönlichen Verhalten wie in institutionellen, systemischen Prozessen.  (OR/UR).  Dass strukturalistische Diktum einer Dritten Position, das hier mit hineinspielt (Verobjektivierung der Innenansicht der Erfahrung einer ersten Person) bleibt dabei, im besten Sinne!, grenzwertig’. Schon der Buddha war nach seiner Erleuchtung mit dem ‚un-heimlichen’ Problem konfrontiert, ob seine Erfahrung überhaupt zu kommunizieren, mit anderen Worten, ob Resonanz auf eine solches Nirwanaerleben bei seinen Mitmenschen anzutreffen sei. In seinem Mitgefühl für das Leiden der Menschen entschied er sich  eindeutig. Aber wofür entschied er sich? Für das eigentlich Unmögliche, nämlich die reine Subjekthaftigkeit seines Erfahrens,  das Ungreifbare, ins Wort, in die Tat zu setzen! Ein Tun, durchtränkt von Schweigen.  Es gibt eine Grenze des Mitteilbaren, die nicht nur den Außenstehenden betrifft, sondern ebenso den Erfahrenden- das Geheimnis wird oftmals tiefer, umfassender sein als seine Worte, möglicherweise als sein Verständnis, so dass sein Handeln dagegen inkongruent erscheinen könnte. ‚Der Weise schweigt’ sagt Lao Tse; dies Wort setzt die Grenze für eine dritte Person Anschauung; es wahrt die Würde des Mysteriums gegenüber dem Zugriff von Innen (Ich) wie Außen (Es).
 Nun hat diese Grenze gegenüber dem Sprechen-, bzw. Wissen wollen nichts mit Vergeheimnissung zu tun. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Bei jeder spirituellen Erfahrung treffen Vollkommenheit und Unvollkommenheit aufeinander. Die Makellosigkeit des Augenblicks erträgt zumeist nur Schweigen und will doch mitgeteilt sein- als communio. Ein Paradoxon, das die Gebärde des Integrals nur durch Hingabe einzulösen vermag. Warum? Weil sie, in unserem Verständnis, über alle Aufklärung hinaus  zuvörderst ein Akt des Liebens ist,  - unterscheidende Weisheit auf der Tiefe des Mitgefühls, der offenen Umarmung.
Die Evolution, gemäß Teilhard de Chardin, zielt immer auf den Punkt Omega. Mäandernd, mit Sprüngen wie Brüchen, ja katastrophalen Verwüstungen wie heutzutage, schwingt sie hin und her: (Geschichte)   und löst ihn, wie die Zeugnisse vieler Mystiker zeigen, doch in jedem Moment gleichzeitig ein: (Erleuchtung). Mit beiden Wahrheiten hat eine integrale Anschauung zu leben.  Wenn die katholische Liturgie von der ‚glücklichen Sünde’ spricht (mit Blick auf die Paradieserzählung), so scheint hier, juwelengleich, die essentielle religiöse Einsicht auf, dass das Fehlgehen des Menschen notwendiger Teil seiner Entwicklung ist- Versuch und Irrtum, besser Anziehung und Abstoßung- schon im Garten Eden; oder mit den Worten Mephistos in Goethes Faust: ‚Ich bin ein Teil der Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft!’ (Umgekehrt gilt der Spruch mindestens ebenso sehr!)


V.
Ein Letztes. Wilbers Hinwendung zum Du ist ein Schritt in die konkrete Dialogik , die eine oft leicht zum Abstrakten neigende integrale Spiritualität versinnlicht und auf den Boden immer holpriger Wirklichkeiten zurückholt. Ein Schritt von Ost nach West, von Sri Aurobindo zu Martin Buber; ein Sprung vom kosmisch schweifenden Zeugenblick (One taste) auf den mit allen Düften und Dünsten durchzogenen Marktplatz, wo eher weisheitliches Narrentum gefragt ist. (Man denke an die schöne Erzählung „Siddartha“ von Hesse): Erst in der offenen Umarmung eines schmutzigen Alltags, in diesem allzeitigen Du kann sich die spirituelle Makellosigkeit des Brahmanensohnes , die in vieler Hinsicht nur Einsamkeit kaschiert, ein-, besser erlösen.
 Eros und Sexus sind der Weg zur Hingabe, scheinbare Minderung ist Mehrung. Die integrale Anmutung der offenen Umarmung singt das Lied der Tantras, sie traut sich, die Welt, den Marktplatz zur Geliebten werden zu lassen- ohne Scheu, ohne Scham. Dies scheint mir eine Konsequenz aus Wilbers eigenen, früheren Hinweisen, dass alles darauf ankommt, die primären Stufen der Evolutionsspirale zu stärken.
Schon das moderne Denken hat in seiner Verlagerung sozialer und ökonomischer Prozesse auf  technisch-virtuelle Ebenen den Du-Bezug zur Erde in weiten Teilen preisgegeben- mit verheerenden Konsequenzen für Um- und Mitwelt; eine integrale Spiritualität, die sich auf die oberen Tiers fixiert!,  verrät das holarchische (urdemokratische) Ansinnen, die Gesamtheit der Spirale zu fördern, d.h. eine ökologische  Religio zu entwickeln, die im kosmischen Geviert der Erde verankert ist: Sorbas, the Buddha als Omegapunkt hier und jetzt (frei nach Osho).
 Die Wahrheit ist konkret, sinnlich; die Erleuchtung erkennt sich, realisiert sich an ihren Früchten; aber noch ein Umfassenderes ist im Du Bubers ausgesprochen- eine Relation von kosmischer Weite und transzendenter Tiefe/Höhe; eine Antlitzhaftigkeit, in der ‚Person’ in ihrer allgegenwärtigen Bezogenheit, in die sie eingetaucht ist, aufscheint, jenseits aller spirituellen Perfektion. (man vergleiche hier die Sätze über die Liebe im Korintherbrief des Paulus!). Das ewige ICH BIN bedarf der Gestalt, die durchlässig ist für den Anruf, die Anrede Gottes, die aus jedem Ding, jeder Situation hervorklingt; Zeugenbewusstheit im Feld des Alltags.3
Was anderes meint die buddhistische Lehre von der Ununterschiedenheit von Form und Leere als, mit den Worten des großen amerikanischen Dichters Walt Whitman gesprochen, Grashalm und Geist  als Nicht-Zwei zu erkennen, und sich also „vor diesem hoffnungsgrünen Stoff, der die Fahne meines Herzens ist.. oder die unbeantwortbare Frage eines Kindes: Was ist Gras?.. oder der Mutterschoß..“ als dem allzeit sichtbaren Mysterium zu verbeugen. 4
Das christliche Pendant zur östlichen Einsicht in die Nicht-Zwei lautet: ‚Ich und der Vater/die Mutter sind Eins’ (vgl auch Panikkar). Bedeutsam scheint mir hier der Hinweis auf eine Verschränkung von personal und transpersonal im Begriff des Antlitzes.  Ant- meint entgegen- und litz ist das altgermanische Wort für sehen, und weiter noch leuchten. In bzw. durch die Person hindurch schaut mir also, bzw. leuchtet mir eine Angesichtigkeit entgegen, die zugleich Dialogik wie reine Beziehungshaftigkeit ausspricht, deren Urgrund in der Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott liegt im Sinne von Genesis1 des Alten Testamentes. Das Tätigkeitswort dafür ist Lieben.

Nachsatz:
Die integrale Anmutung, die ihren eigenen Schatten- die unausbleibliche Überforderung durch das Paradox der offenen Umarmung immerfort produziert- als Hochmut, verkappte Besserwisserei und spirituell getarnten Narzißmus bedarf  zu ihrer Balance vielleicht mehr denn je einer ‚erotischen’ Qualität, die im äußeren Lebensraum immer stärker verloren zu gehen scheint (mit dramatischen Konsequenzen für das Innen): der Erkenntnis der Wildnis  der eigenen Natur. In den Worten Gary Snyders, des berühmten amerikanischen Zenfreaks, Umweltaktivisten und Dichters: ‚Von Wildnis sprechen heißt von Ganzheit sprechen; Wildnis ist ein Ort, wo das wilde Potential vollständig zum Ausdruck kommt; eine Vielgestaltigkeit an Wesen und Dingen, die ihrer eigenen Ordnung gehorchend gedeihen, (sie) schließt Chaos ein und Eros. Das Nachdenken über die Wiederbelebung dieser Mitgliedschaft in der Vollversammlung aller Lebewesen ist keineswegs regressiv..“ Geist bedeutet nicht Meinungen und Vorstellungen, sondern Bäume, Zaunpfähle, Dachziegel und Gräser.“ (Dogen, Begründer der Soto-Schule des japanischen Zen-Buddhismus). Die Lektionen , die wir vom Wilden lernen, werden zu Umgangsformen der Freiheit. Die ruhige Würde, die viele sogenannte Primitive  kennzeichnet, ist eine Widerspiegelung dieser Tatsache’. 5


1 Vgl. das Kapitel Das Schweigen des Budddha, in :Raimon Panikkar, Gottes Schweigen, S. 224  „ Wir nähern uns Gautama, dem Buddha, voll Ehrfurcht, und dann ist es plötzlich, als wären wir nicht da und könnten all diese schrecklichen, uns quälenden Probleme nicht stellen.“. und „Das Symbol des kontemplativen Lebens ist das Schweigen, dass nicht nur die Worte sondern auch das Denken stillt.“ (S.235)

2vgl. hierzu Äußerungen A. Cohens  (im Gespräch mit Wilber) wie: „ Wir sind so egozentrisch geworden, dass wir buchstäblich den Kontakt  mit dem moralischen Dimensionen verloren haben... Nur wenn wir gewillt sind, unsere persönlichen Wünsche loszulassen.., wenn wir uns wahrhaftig über das Ego hinausentwickeln.. Tatsächlich enthüllt sich die höhere moralische Dimension des Lebens nur dann, wenn...“. in:What is Enlightment, S. 1o8  Das kosmische Gewissen. Die rhetorische Übersteigerung  solcher  Forderungsmoral  (siehe auch die Boomeritsdebatte) gerät schnell in die gefährliche Zone einer puristischen Ethik, wie sie vielen idealistischen Strömungen zu eigen sind- mit gefährlichen Konsequenzen, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts gezeigt hat.

3 Vgl. Martin Bubers unerhört eindringliche Schilderung seines Traumes von der Gleichzeitigkeit von Ruf und Echo, Frage und Antwort: Urerinnerung , in: das Dialogische Prinzip, S. 139ff

4 vgl. Walt Whitman, Grashalme, Reclam, S.37 f.

5 Gary Snyder, Lektionen der Freiheit, in: Lettre International Nr. 75 Winter 2006, S. 82-87

 

 

 Weitere Themenbereiche als Hör-Cds/Kassetten ( 3€ plus Versandkosten):

- Aufbruch in eine neue Dimension: Einheit in der Vielheit. Eine Konferenz

- Portrait eines christlich-indischen Lebens: der Benediktinermönch Henri Le Saux 

- Pionier des interreligiösen Dialogs - Bede Griffiths : Leben für eine neue Schöpfung

-Brückenbauer zwischen Ost und West: der spanisch-indische Theologe Raimon Panikkar 

-Indien: traditionelle Ashrams und interreligiöser Dialog heute 

- Reise in die Mitte des Kreuzes. Geschichte der Entdeckung eines Symbols 

- Das Tao der Bergpredigt 

- Das Aramäische Vater Unser: ein kosmisches Jesugebet 

- Begegnung mit dem Thomasevangelium 

- Fundamentalismus: Stimmen 

- Was heißt Heilung? Überlegungen eines Therapeuten 

- 'Denn alle Lust will Ewigkeit': von Begehren, Leidenschaft undr Religion

- Schöpfungsspiritualität: der Theologe Mathew Fox und seine Thesen zu einer Spiritualität im neuen Jhrtsd

- Ken Wilber und die integrale Spiritualität 

- Mystisches Verstehen heute: Der Christ und Zenmeister Willigis Jäger

- Mitwirken am Großen Wandel: die amerikanische Tiefenökologie Joanna Macy 

- Friede mit friedlichen Mitteln: der Alternative Nobelpreisträger Johan galtung im Gespräch 

- Der Schriftsteller Carl Amery und die Arbeit an der Zukunft: Einblicke in Werk und Person 

- Gott ist  Wasser. Portrait einer Christin ohne Kirche in Burkina Faso 

- Zen im Kino: Die Filmemacherin Doris Dörrie 

 

 

 

 

 
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